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Published on Juni 22nd, 2016 | by Manuel Simbürger

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Aguilera: Opportunistin oder Friedensstifterin?

Das Massaker in Orlando schockte die Welt – und tut es immer noch. Die Solidarität weltweit ist groß, was Hoffnung gibt, vielleicht ist die Welt ja doch noch nicht am Ende und irgendwo gibt es noch Liebe und Hoffnung anstatt nur Wut, Hass und Trauer. Auf Twitter zeigten sich bereits wenige Stunden nach dem Attentat zahlreiche Promis betroffen und riefen nicht nur zu mehr Toleranz, sondern auch zu einer radikalen Änderung des US-Waffengesetzes auf.

Mit Understatement mitten ins Herz

Auch Pop-Diva Christina Aguilera erhob, ganz im Sinne ihrer voran gegangenen Erfolgssingle „Say Something“, ihre Stimme, ging aber einen Schritt weiter und veröffentlichte überraschend einen neuen Song, den sie den Opfern der Orlando-Tragödie sowie deren Hinterbliebenen widmet: „Change“ heißt er und handelt um die Hoffnung, die wir uns im Herzen bewahren müssen. Die Hoffnung, dass es eines Tages eine Welt geben wird, in der unsere Herkunft, unser religiöser Glauben und unsere sexuelle Orientierung keine Rolle mehr spielt. In der wir für unsere Mitmenschen, aber auch für uns selbst mehr Toleranz und Verständnis empfinden.

„Who you love or the color of your skin
Or the place that you were born and grew up in
Shouldn’t decide how you will be treated
Cause we’re all the same when everybody’s breathing“

singt Aguilera mit zugleich verletzlicher und kraftvoller Stimme, bevor sie zum emotionalen Refrain ansetzt:

„Waiting for a change to set us free
Waiting for the day when you can be you and I can be me
Waiting for hope to come around
Waiting for the day when hate is lost and love is found
Waiting for a change“

Die Lyriks, die zielgenau ins Schwarze treffen und die (rechte) Stimmung, die derzeit über die gesamte Welt überzuschwappen scheint, werden unterstützt von einer zarten Melodie, die sich ins Ohr schmeichelt und sich dort sofort versetzt. Aguilera hält sich in ihrem Gesang (mehr oder weniger) zurück und beweist einmal mehr, dass sie am lautesten ist, wenn sie leise ist. „Change“ beeindruckt durch wohligen Understatement: Pathos wird vermieden, trotzdem trifft einem der Song wie ein (durchaus auch schmerzhafter) Stich mitten ins Herz.

Der Erlös der Single (über iTunes erhältlich) kommt zu 100 Prozent den Orlando-Opfern zugute. Zusammen mit einem herzerwärmenden Statement von Aguilera ist das ein schönes solidarisches Zeichen, vor allem für die internationale LGBTQ-Community. So erinnert „Change“ an Aguileras Super-Hit „Beautiful“ aus dem Jahre 2002, der, lange bevor der Popmarkt es als trendy empfand, sich für die queere Community einzusetzen, für Toleranz und Selbstakzeptanz gleichgeschlechtlich Liebender aufrief und der Sängerin zahlreiche Preise und Auszeichnungen einbrachte.

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Nur Mittel zum Zweck?

Genau da liegt, so komplex es klingen mag, auch das Problem von „Change“ – und der Grund, wieso der Song innerhalb kürzester Zeit massiv an Chartplätzen einbüßen musste (in den US-iTunes-Charts fiel er innerhalb einer Woche von Platz 10 auf Platz 31). Kritik an Aguilera, sie würde von der Tragödie nur profitieren und ihre schon seit längerem stagnierende Karriere so wieder einen kräftigen Schub verleihen wollen, wurden bereits kurz nach der Veröffentlichung des Songs auf YouTube laut. „Heuchlerisch!“ heißt es da von vielen Usern, oder auch: „Sie ist eine verdammte Opportunistin!“ Mehr als geschmacklos sei es, solch eine Tragödie für das Aufpolieren des eigenen Images zu benutzen. Auch wenn es zahlreiche Gegenstimmen gibt, die die Sängerin lautstark verteidigen, so verstummt vor allem folgende Kritik einfach nicht: Würde Aguilera, wollte sie wirklich helfen, nicht mehr bewirken, würde sie eine hohe Geldsumme an den Orlando-Victim-Fund spenden? Muss es tatsächlich ein Song sein, der noch dazu als Vorbote des lang erwarteten neuen Albums der Sängerin gilt?

Dass sich „Change“ aber nur schleppend verkauft, liegt nicht am Song oder Aguilera selbst, sondern eher an der „Charity-Song-Falle“: Denn bis auf sehr wenige Ausnahmen haben sich Singles, die karitative Zwecke verfolgen, sich in den Charts seit jeher schwer getan: 1991 taten sich mehrere Künstler beim Song „Voices that care“ zusammen, um gegen den Golfkrieg anzugehen. In den Charts ging er sang- und klanglos unter. Michael Jackons Charity-Song „What more can I give“ von 2001 wurde nicht mal veröffentlicht, da er von Scientology gesponsert wurde. „Ronan“ von Taylor Swift, der Krebs-Patienten gewidmet ist, gehört zu den Flops der sonst so erfolgsverwöhnten Sängerin. „One“ von U2, der Geld für die AIDS-Forschung sammeln sollte, konnte sich an den sonstigen Chartserfolgen der Band nicht messen. Ganz zu schweigen vom katastrophalen 2010er Remake von „We are the world“ – übrigens eine der ganz wenigen Charity-Songs, die auch heute noch zu den meistgespielten Radiosongs gehören. Aber sogar dieser Klassiker wurde bei seiner Veröffentlichung 1985 nicht nur ausgelacht, sondern auch stark kritisiert: Als reiner Publicity-Stunt wurde der Song, der Spenden für Afrika sammelte, belächelt. Genau dieser Vorwurf ist es, der Charity-Songs immer wieder einen Chartserfolg unmöglich macht. Ja, man wolle auch unterstützen, sagt (bzw. behauptet) das Publikum. Aber dabei sicher nicht die Karriere von scheinbar heuchlerischen, Publicity-geilen Künstlern unterstützen.

Kampf aus Überzeugung

Irgendwie ist ja auch was dran. Dass Aguilera in Sachen Image und Aufmerksamkeit nicht vom neuen Song profitiert, wäre naiv zu glauben. Jeder Künstler, der einen Charity-Song veröffentlicht oder unter dem wachen Medienauge für karitative Zwecke eintritt, weiß genau, dass er auch selbst sowie die eigene Karriere von diesem Tun profitiert. Die Frage ist aber: Wäre es denn besser, gar nichts zu tun? Natürlich nicht. Aber vielleicht stillschweigend eine hohe Geldsumme zu spenden, möchte man ehrlich und selbstlos helfen? Ja, vielleicht. Aber Promis sind Menschen des öffentlichen Lebens – und die haben als eine der wenigen Menschen die Möglichkeit, eine große Masse auf ein Thema, auf eine soziale Problematik aufmerksam zu machen, zum Denken anzuregen und so vielleicht etwas zu verändern. Spenden? Ja, kann man machen. Aber immer ist das reine Geben von Geld nicht ausreichend.

Abgesehen davon: Aguilera hat sich seit Beginn ihrer Karriere als große Unterstützerin der LGBT-Community erwiesen, bewiesen und immer wieder behauptet. Und das, bevor es zum guten Ton innerhalb der Popbranche wurde. Neben „Beautiful“ widmete sie auch ihren Song „Army of me“ „all jenen, die sich missverstanden fühlen und nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, aber eine Stimme verdienen”, wie sie selbst erklärt. Aufhorchen lässt aber ein Zitat der Sängerin aus einem Interview mit advocate.com aus dem Jahr 2012:

„I cannot be more thankful for the support over the years from the community. Even when I felt I couldn’t stand, they held me up and supported me. I think we can each related to each other and I am forever indebted.“

Klar, wie sehr man seine schwulen Fans nicht liebt, das hört man von Künstlern öfter mal. Das Statement von Aguilera wird erst zu etwas Besonderem, wenn man zwischen den Zeilen liest: Aguilera verlässt den elitären, gar arroganten Standpunkt und die Sicht von oben herab, und stellt sich mit der LGBTQ-Community auf eine Stufe: Wenn sie nicht weiter wusste, wenn sie am Boden war, waren sie für die Sängerin da. Ihre queeren Fans, ihre queeren Freunde. Ihre queeren Verbündete. Sie haben immer zu ihr gehalten. Aguilera betont nicht, wie viele ihrer KollegInnen es an dieser Stelle getan hätten, dass sie die Community unterstützt, sondern stellt vielmehr umgekehrt die Unterstützung der Community für die Sängerin in den Vordergrund – und die sei sogar so groß, meint Aguilera, dass sie für immer in der Schuld der queeren Community stehen würde. „Wir können uns miteinander identfizieren“ sagt sie und macht sich somit selbst zum Teil der Community. „I have a close group of people I really trust who I have known forever — some are gay and some aren’t. To me they are just close friends“ sagt sie noch im selben Interview und man spürt instinktiv, dass sie es ernst meint.

Nicht zu vergessen: Die Sängerin ist bekannt dafür, Netz-Clips von Songs zu veröffentlichen, wenn diese eine Message beinhalten, eine Story erzählen, die Aguilera besonders am Herzen liegen: „Save me from myself“ berührt mit intimen Privataufnahmen (und sehr selbstkritischen Lyriks) ihrer ersten Hochzeit, „Let there be love“ ist ein Dankeschön an ihre Fans (und ja, auch eine dringende Distanzierung ihres bis dahin sehr kühlen Images), der nicht nur erneut deutlich zur Nächstenliebe aufruft, sondern auch schwule, verliebte Pärchen wie selbstverständlich neben Hetero-Paaren zeigt. Alles keine offiziellen Singles, alles Veröffentlichungen ohne Vorankündigung (das kann also nicht nur Beyonce!). Und „Change“? Dessen Video stellt natürlich die so wichtigen Lyriks in den Vordergrund und zeigt private Aufnahmen aus Aguileras Kindheit.

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Ist also alles schon gut so, wie es ist. Man kann sich ja den Song trotzdem anhören, auch wenn man nicht an Aguilera guten Willen glauben mag. Es lohnt sich, berührt er doch von der ersten Sekunde an. Und wenn Aguilera tatsächlich den einen oder anderen neuen Fan durch den Song dazu gewinnt, ist’s auch okay. Vielleicht hat sie es sich ja auch verdient.

Fotos: Screenshots/YouTube

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About the Author

Ich bin freiberuflicher Journalist in Österreich (I’m a freelance journalist in Austria) – und wie das bei Journalisten so ist, schreibe ich über alles (naja, fast alles) lieber als über mich selbst. In meinem Fall: Kultur, Pop, Popkultur – und alles, was dazwischen liegt. Weil man Lifestyle, Musik, Film, TV, Gesellschaftskritik, Politik und Gossip nun mal nicht trennen kann. Weil Populärkultur der Spiegel der Gesellschaft ist. Und weil ich als Journalist der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will. Man könnte auch sagen: Popkultur mit Niveau. Infotainment vom Feinsten.



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