Ein Plädoyer für .... Unknown

Published on Dezember 19th, 2015 | by Manuel Simbürger

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Carrie Underwood, die Geschichten-Tante

Geschichten zu erzählen, zu verkaufen, das ist das täglich Brot von Künstlern. SchauspielerInnen werden zu anderen Personen und bringen uns eine Welt nahe, die fremd und bekannt zugleich ist. SängerInnen säuseln, trällern und quietschen auch manchmal von der großen Liebe, der Freiheit, die die Welt einem verspricht, oder … der großen Liebe und wie man an ihr zu ersticken droht, hat man sich einmal an ihr verschluckt. Ja, sogar Journalisten tun am Ende des Tages nichts anderes, als Geschichten zu erzählen. Weil: Geschichten sind der Motor unseres Lebens, sie lassen die Erde weiter drehen und erlauben es uns, zu träumen und Dinge zu verstehen, die manchmal außerhalb unseres Horizonts liegen mögen. Als Kinder sind wir mit Gute-Nacht-Geschichten eingeschlafen. Als Erwachsene brauchen wir immer noch Geschichten, um in der Nacht ruhig schlafen zu können.

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Ob sich Carrie Underwood, die Beyonce der Countrymusik, so viel über die Bedeutung des Geschichten-Erzählens gemacht hat, ist fraglich. Ihr neues, mittlerweile fünftes Studioalbum, hat sie jedenfalls „Storyteller“ genannt – und im Gegensatz zu ihrem vorherigem Album „Blown Away“, das seinem Titel leider nur in geringem Maße gerecht wurde, präsentiert sich Underwood auf der aktuellen Scheibe tatsächlich als vielseitige und vor allem sexy Geschichtenerzählerin, die Wert darauf legt – wie es ja bei einer guten Story sein soll -, keine Langeweile aufkommen zu lassen: Da singt sie zum einen detailreich über eine öffentliche Affäre, die vor Gericht endet, aber auch über Gewalt in der Ehe, die zwar nicht vor Gericht, aber mit dem Tod endet. In „Dirty Laundry“ geht’s Machos und Ex-Boyfriends an den Kragen, während sie in der Leadsingle „Smoke Break“ (läuft aktuell auf allen Country-Sendern auf Powerplay) das Schicksal einer hart arbeitenden Mutter bedauert und klar stellt, dass es gar nicht immer so leicht ist, eine „gute Christin“ zu sein (amen, Schwester!). Weil, das dürfen wir nicht vergessen – und lässt Underwood auch nicht zu -, es handelt sich bei „Storyteller“ immer noch um ein Country-Album. Also dürfen auch Songs über die Romantik, die Unabhängigkeit, über das Erwachsenwerden und das Wunder des Mama-Seins (Underwood ist frischgebackene Mutter) nicht fehlen.

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Faszinierend macht „Storyteller“ weniger die thematische Bandbreite, sondern die Vielfältigkeit, mit der sich Underwood hier zeigt. Kühner und sexier als jemals zuvor präsentiert sie sich, Underwood scheint mit ihrem fünften Studioalbum die Rolle der Leading Lady des Country endlich vollends angenommen zu haben – und sie scheint sich damit noch nie wohler gefühlt zu haben. Nicht nur mit Leichtigkeit, sondern auch mit einer erfrischenden Ironie, einer Unbefangenheit einem großen Selbstbewusstsein wechselt sie zwischen den Rollen der sexy Powerfrau-Diva-Bitch, die sich ihre Regeln selbst zurechtlegt, und dem lieben, netten Girl-Next-Door, das am liebsten auf der Blumenwiese ihrer Ranch ihren Träumen nachhängt und davon singt, wie lieb sie nicht ihren Daddy hat. Keine der beiden Rollen wirkt aufgesetzt, beides scheint Underwood wie niemals zuvor verinnerlicht zu haben.

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Vor allem aber scheint das Mutter-Sein in Underwood eine Verspieltheit und auch Frechheit hervorzurufen, die man in diesem Maße von ihr noch nicht kennt (womit sie an Christina Aguileras unterschätztes futuristisches Meisterwerk „Bionic“ erinnert, das auch kurz nach der Geburt des ersten Kindes der Sängerin entstand): Erstmals in Underwoods Karriere überwiegen auf dem Album die Up-Tempo-Nummern, die Country-Balladen und Dahinplätscher-Songs (die, let’s face it, bei Underwood gerne mal ein herzhaftes Stöhnen hervorrufen) halten sich in Grenzen. In Songs wie „Church Bells“, „Chawtac County Affair“ oder „Dirty Laundry“ bietet uns Underwood eine Mischung aus Rock, Pop und Country und legt in ihren Gesang etwas Rotzfreches und Siegessicheres, wie man es von ihren größten Hits wie „Cowboy Casanova“, „Blown Away“ oder „Before he cheats“ zwar bereits kennt und liebt, hier legt sie aber noch ein Schäfer nach. Die Songs gehen nicht nur sofort ins Ohr (und bleiben dort auch), sondern bieten vor allem einen Stil, der in den aktuellen Charts einzigartig ist. So hat sich Underwood ihren ganz eigenen Wiedererkennungswert geschaffen, den man ihr auf den ersten Blick nicht zutrauen würde (und der zuweilen, das muss man zugeben, an Country-Kollegin Miranda Lambert erinnert). Angenehm: Auch die ruhigen Songs können auf „Storyteller“ überzeugen, auch wenn sich der eine oder andere Filler dann doch eingeschlichen hat („Heartbeat“, „What I never knew I always wanted“). Was sich nicht verändert hat: Underwood trifft auch auf der neuen CD jeden einzelnen Ton und beweist, dass sie zu den aktuell begabtesten Singvögeln des Musikbiz gehört. Nicht zufällig, dass viele Songs im A-Capella-Stil beginnen, bevor Underwood ihrer Rockröhre so richtig freien Lauf lässt.

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Die Frage, ob das alles noch nach „echtem Country“ klingt, ist berechtigt und obsolet zugleich. Underwood bewegte sich von Beginn an zwischen Pop und Country – wobei seit einigen Jahren ohnehin immer mehr die Grenze zwischen diesen beiden Genres verschwimmt. Wer also ein klassisches Country-Album erwartet, das besinnlich die Terrasse beschallt, während man zufrieden den Sonnenuntergang genießt, sollte von „Storyteller“ wegbleiben. Alle, die gute Geschichten mit catchy Sound mögen, sind hier richtig. Zum Einschlafen eignet sich „Storyteller“ jedoch nur bedingt.

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About the Author

Ich bin freiberuflicher Journalist in Österreich (I’m a freelance journalist in Austria) – und wie das bei Journalisten so ist, schreibe ich über alles (naja, fast alles) lieber als über mich selbst. In meinem Fall: Kultur, Pop, Popkultur – und alles, was dazwischen liegt. Weil man Lifestyle, Musik, Film, TV, Gesellschaftskritik, Politik und Gossip nun mal nicht trennen kann. Weil Populärkultur der Spiegel der Gesellschaft ist. Und weil ich als Journalist der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will. Man könnte auch sagen: Popkultur mit Niveau. Infotainment vom Feinsten.



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