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Published on Mai 15th, 2016 | by Manuel Simbürger

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ESC 2016: Darf der Justin das?

Von Beginn an war der diesjährige ESC von Skandalen – oder zumindest Skandälchen – umgeben: Dem israelische, offen schwule Kandidat Hovi Star wurde im Vorfeld die Einreise nach Russland verwehrt, Rumänien wurde aufgrund der hohen Schulden an die EBU aus dem Wettbewerb gekickt, die armenische Sängerin Iveta Mukuchyan schwenkte die Flagge der nicht anerkannten Republik Bergkarabach (und verstieß somit gegen die – zumindest offiziell geltende – Non-Politich-Regel des ESC), Schweden soll seinen Song gestohlen haben, ein Mitglied der russischen Fachjury hat das eigentlich streng geheime Voting live gestreamt und einer der vielen feschen Jungs unter den Kandidaten soll gar als Escort tätig gewesen sein. Damit nicht genug: Das neue Voting-System (Jury- und Publikums-Punkte werden erst zum Schluss addiert) stießen bei vielen Fans und Kritikern auf wenig Gegenliebe, Deutschland liefert abermals ein Debakel ab (okay, den Skandal sah hier nur Rapper und Jamie-Lee-Coach Smudo) und mit der Ukraine als Gewinner ist irgendwie auch keiner so recht zufrieden. Als wäre das alles sowieso nicht schon mehr als genug für die empfindsame ESC-Fan-Seele, dann auch noch das: Der internationale Super-Superstar Justin Timberlake wird in der Pause vor der Punktebekanntgabe seine neue Single “Can’t stop the feeling” präsentieren.

Und alle fragen sich: Darf der Justin das?

Andreas Putting (EBU)

Nicht jeder muss sich an Regeln halten

Es ist das allererste Mal in der Geschichte des Eurovision Song Contest, dass ein internationaler Superstar außerhalb des Wettbewerbs auftritt – und noch dazu einer, der nicht mal aus Europa ist. Das Bild ist tatsächlich etwas schief: Nicht nur, dass Justin schon bei der Begrüßung keinen Hehl daraus machte, wieso er heute Abend da ist (einen neuen Film und eine neue Single vor einem 200-Millionen-Publikum zu präsentieren lässt sich sogar ein neunfacher Grammy-Gewinner nicht entgehen), auch brach er mit seiner Performance gleich mal gegen ein paar der wichtigsten ESC-Regeln: Anstelle der erlaubten sechs hatte er ganze 20 Bandmitglieder auf der Bühne, noch dazu wurden ihm sechs Minuten Bühnenzeit gewährt – während sich die “normalen” ESC-Teilnehmer mit drei Minuten begnügen müssen. Da ist die EBU (Organisator des Song Contests) normalerweise ganz streng. Aber wenn ein Kaliber wie Timberlake an die Haustür klopft, dann macht man halt schon ein paar Ausnahmen. Dass Timberlake US-Amerikaner ist und somit eigentlich nichts in einem europäischen Gesangwettbewerb zu suchen hat, fiel da zwar nicht mehr sonderlich viel ins Gewicht – schließlich ist seit 2015 auch Australien mit von der Partie und hätte heuer sogar beinahe gewonnen -, vielen ESC-Anhängern stieß das trotzdem sauer auf: Schließlich habe sich der Song Contest immer damit gerüstet, auch außerhalb der Entertainment-Weltmacht USA einen musikalischen Mega-Event jenseits von Ländergrenzen auf die Beine stellen zu können.

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Verkleinertes Selbstbewusstsein

Kurz: Die ESC-Fans befürchteten (und tun es immer noch) eine Amerikanisierung des Song Contests. Dass das übertrieben ist, dürfte wohl auch dem größten Kritiker klar sein. Dass sich der ESC Image-mäßig mit dem Auftritt von Timberlake aber tatsächlich nicht nur einen Gefallen getan hat, wurde einem gestern Abend klar: Im Vergleich zum “großen Timberlake” wirkte so mancher ESC-Teilnehmer plötzlich beinahe amateurhaft, der so oft in Experten- und Fankreisen diskutierte qualitative Unterschied in Sachen Entertainment zwischen den USA und Europa wurde einem mit Timberlakes Performance erneut mehr oder minder schmerzhaft vor Augen geführt. Noch dazu ist der Eurovision Song Contest in den Augen der breiten Masse ohnehin nicht mehr als ein Kasperltheater, der vielleicht in Sachen guter TV-Unterhaltung, aber sicherlich nicht mit seiner (musikalischen) Qualität überzeugen kann – oder wie es so manch einer in meinem Umfeld ausdrückte: “Schickt das jeweilige Land zum Song Contest immer absichtlich seine schlechtesten Künstler?!” Wenn sich da plötzlich ein mehrfacher Grammy-Preisträger unter die Reihen mischt, der von vielen auch noch als “einziger würdiger Michael Jackson-Nachfolger” gehandelt wird, dann stellt man irgendwie das eigene Licht unter den Scheffel. Das Selbstbewusstsein der EBU wirkte dankt Timberlake plötzlich um einiges kleiner.

Anna Velikova (EBU)

Bitte Toleranz – auch für Timberlake!

Auch Kommentator Audi Knoll (an dieser Stelle: Kudos an seine immer treffsicheren Lausbub-Statements!) war sich nicht ganz so sicher, was er von Timberlakes Dabeisein beim ESC halten soll. Es ist aber nicht alles schlecht, so wie immer halt: Nicht nur, dass uns Justin sechs Minuten lang perfekt unterhielt und seine aktuelle Single das Zeug dazu hat, das neue “Happy” zu werden – so viel Aufmerksamkeit hat der Song Contest wohl seit vielen, vielen Jahren nicht mehr bekommen, und das weltweit. Gleichzeitig kann man es auch so sehen: Timberlakes Auftritt adelte den ESC und hob diesen auf die nächste Stufe der Anerkennung. Die oftmals mühsame Zeit bis zur Punktevergabe wurde verkürzt und sogar mit Spannung erwartet – denn Timberlake kennt sich mit Pausenfüllern schließlich bestens aus: 2004 lieferte er mit Janet Jackson einen weltweiten Skandal während des Super Bowls, der als “Nipplegate” in die Entertainment-Geschichte einging.

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Und, sorry, auch das muss mal gesagt werden: Der ESC-Bubble ist sowas wie ein Paralleluniversum, das zwar mit grellen Farben, außergewöhnlichen Performances und Frauen mit Bärten gut umgehen kann, aber nicht mit Veränderungen. Der ESC ist eine 60-jährige Institution, da hat man es, gelinde gesagt, nicht so gern, wenn da plötzlich Regeln über den Haufen geworfen werden. Man erinnere sich nur mal an die hiesige Diskussion damals, als die EBU die radikale Änderung vornahm, nicht mehr in Landessprache singen zu müssen. Heute stößt sich daran (fast) keiner mehr. Vielleicht ist es endlich an der Zeit, dass sich die lautstark nach Toleranz schreiende Gay- ESC-Community seine Forderungen selbst mal zu Herzen nimmt. Denn auch, wenn jemand über ein dickes Bankkonto, eine riesige internationale Fangemeinde und mehrere zahlreiche Auszeichnungen verfügt: auch so einer möchte am Ende des Tages doch nur geliebt werden.

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Fotos: Facebook / Justin Timberlake, Andreas Putting / EBU, Anna Velikova (EBU)

 

 

 

 

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About the Author

Ich bin freiberuflicher Journalist in Österreich (I’m a freelance journalist in Austria) – und wie das bei Journalisten so ist, schreibe ich über alles (naja, fast alles) lieber als über mich selbst. In meinem Fall: Kultur, Pop, Popkultur – und alles, was dazwischen liegt. Weil man Lifestyle, Musik, Film, TV, Gesellschaftskritik, Politik und Gossip nun mal nicht trennen kann. Weil Populärkultur der Spiegel der Gesellschaft ist. Und weil ich als Journalist der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will. Man könnte auch sagen: Popkultur mit Niveau. Infotainment vom Feinsten.



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