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Published on Juni 5th, 2017 | by Manuel Simbürger

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One for Manchester: Zwischen Party und Terrorwarnung

Ariana Grande ist zum Ort des Grauens zurückgekehrt und hat ihn sogar in einen Ort der Liebe verwandelt – zumindest, so gut es nun mal geht in einer Zeit, in der internationale Großstädte in regelmäßigen Abständen von Terroranschlägen heimgesucht werden und noch keine 24 Stunden zuvor in London sieben Menschen auf offener Straße von Terroristen getötet wurden. In einer Zeit, die eigentlich den Weltkrieg III zeichnet, die sich aber wehrt, sich vom Terror klein machen zu lassen, die alles daran setzt, der Angst und der Verzweiflung und vor allem der emotionalen Ohnmacht zu strotzen. Also war auch diesmal, 13 Tage nach dem Selbstmordattentat bei ihrem Manchester-Konzert, bei dem 22 Menschen (darunter etliche Jugendliche und Kinder) ums Leben kamen, das Stadion wieder bis in den hintersten Winkel voll, als die Pop-Prinzessin alles tat, um das Ereignis vergessen zu machen. Wobei, nein, das stimmt nicht: Bei dem „One for Manchester“-Benifizkonzert, das Grande (samt Management) innerhalb kürzester Zeit auf die Beine stellte und bei dem sich Superstars wie Take That, Robbie Williams, Katy Perry, Justin Bieber, Miley Cyrus und Coldplay die Ehre gaben, ging es nicht darum, das Geschehene aus dem Gedächtnis zu streichen. Im Gegenteil: Grande und ihre Gesangs-KollegInnen taten alles dafür, um das schreckliche Ereignis zu verarbeiten, die Opfer zu ehren und sich gegenseitig Kraft zu geben. Und sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen.

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Popmusik zum Ursprung zurückgeführt 

Bei dem knapp dreistündigen Konzert, das sich offensichtlich an der Idee des großen Live Aid-Konzerts in den 1980ern orientierte (neben der BBC übertrugen gestern auch YouTube und Facebook live, mehr als 50 Länder schalteten weltweit live zu), wurden Gefühle groß und große Egos klein geschrieben: Die Stars performten überwiegend in Pullis, Shirts und Jeans, auf große Bühnenshows wurde verzichtet. Nur Katy Perry gab sich gewohnt extravagant, wirkte aber in ihrem schneeweißen Outfit wie ein moderner Friedensengel. Und genau darum ging’s ja an diesem Abend auch: musikalisch den Frieden zu beschwören und den Terror an die Wand zu singen. Man führte an diesem Abend die Popmusik wieder zu ihrem Ursprung zurück und erinnerte sich daran, zu welch großen Taten dieses so leicht zu belächelnde Musikgenre eigentlich fähig ist: nämlich zum Vereinen der Massen, zum Aufkommen eines kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühls und zum Auslösen einer jeden Katharsis, wie auch immer diese ausfallen mag. Der richtige Popsong zur richtigen Zeit zum richtigen Ort hilft, die innere Gefühlswelt zu verarbeiten, indem sie durch diese musikalisch überhöht wird: Der traurige Song lässt unkontrolliert die Tränen fließen und den Schmerz hinausschreien, der Feel-Good-Song lässt die Welt um sich herum plötzlich heller, motivierender und sinnvoller erscheinen. Am Ende gibt einem Popmusik immer die Kraft – und den Trotz -, weiterzumachen. Wie schwer es auch sein mag, aber auf Musik kann man sich verlassen. Das war auch an diesem Abend spürbar: So manches Mal wurde der Applaus des Publikums vom Sicherheitshelikopter, der über das Stadion kreiste, übertönt. Es gilt: Oberste Sicherheitswarnstufe. Es gilt: Ein Leben, in dem auch ein solch heiteres Erlebnis wie ein Popkonzert zur größten Gefahr werden kann.

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Zwischen Trauer und Party

Vielleicht ist das Publikum an diesem Abend auch deshalb nicht ganz so ausgelassen, wie es eigentlich bei solch einem Konzert der Superlative der Fall ist. Das ist in Ordnung, der Schock sitzt immer noch tief. Immer wieder fließen Tränen über die gebannten Gesichter, Mütter, hin- und hergerissen zwischen Angst und Dankbarkeit, umarmen liebevoll ihre Kinder. Einmal fängt die Kamera ein schwules Pärchen ein, das mit großen, feuchten Augen auf die Bühne starrt. All die widersprüchlichen Emotionen sind ihnen ins Gesicht geschrieben. Alle, die bereits beim ursprünglichen Grande-Konzert dabei waren, haben für „One for Manchester“ Freikarten bekommen, sie setzen sich bewusst mit der Tragödie auseinander, sind immer noch fassungslos und vom Schock gelähmt.

Die Stars auf der Bühne gehen mit dieser Situation ganz individuell um: Die meisten von ihnen schreien Mutmach- und Liebesbekundigungen ins Publikum. „Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen, aber wir wollen heute Stärke zeigen. Schaut also in den Himmel und singt mit“, meint zum Beispiel Gary Barlow, der mit seinen Take That-Jungs, immerhin sowas wie „die Söhne Manchesters“, den Abend eröffnet. Robbie Williams, zu dem Take That überleiten, versagt immer wieder die Stimme (vor Erschöpfung und Benommenheit) und lässt stattdessen das Publikum seine Ohnehin-schon-auf-die-Tränendrüse-drückenden Hits „Strong“ und „Angels“ singen. Erstes Mal Gänsehaut an diesem Abend. Katy Perry ruft die Masse auf, die jeweilige Person neben sich an der Schulter zu berühren und ihnen „Ich liebe dich“ zu sagen. Das berührt auch die Zuseher vorm Bildschirm, nämlich in der tiefsten Ecke ihrer Seele. Sogar Pop-Rüpel Justin Bieber kämpft am Ende seiner zwei Songs (mehr können Künstler bei dieser Art von Konzert nicht performen) mit den Tränen, seine Stimme bricht. Zuvor aber ruft er, begleitend nur von seiner Gitarre, zu beinahe kampfesartigen „Love! Love!“-Gejohle auf – und der Junge, der gern rotzfrech-respektlose Sprüche seinen Fans entgegenwirft, versichert dem Publikum, dass Gott auf sie aufpasse, sie sollen doch bitte nicht – NIEMALS! – den Glauben verlieren. In eine ähnliche Richtung gehen die Black Eyed Peas, die gemeinsam mit Ariana Grande (anstatt Fergie) ihren Friedenssong „Where is the love?“ performen und für einen weiteren Gänsehaut-Moment sorgen. Coldplay setzt auf eine Mischung aus heilender Melancholie („Fix you“) und Empowerment-Partystimmung, inklusive farbigem Sprühregen – was zwar nicht unpassend, aber doch etwas erzwungen wirkt. Genauso wie Pharrell Williams, der gemeinsam mit Miley Cyrus seinen Super-Gute Laune-Hit „Happy“ trällert. „Ich bin heute am Lächeln, denn trotz den Dingen, die passiert sind, sehe ich und fühle ich hier keine Angst“, meint der R&B-Star. So ganz abnehmen will man ihm das nicht, die betonte Partystimmung, um die sich Pharrell bemüht, greift nicht auf das Publikum über. Und sollte es vielleicht auch nicht. Heute. Trotzdem, wir wollen ihm glauben, wenn Pharrell ruft: „Manchester will be fine!“

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Katharsis-Höhepunkte

Zu den Highlights des Abends zählt die kleine Leadsängerin des Chors der Parrs Wood High School, die in Tränen ausbricht und mit ihr das gesamte Stadium und wahrscheinlich das Millionen-Publikum, das via BBC und Social Media mit dabei ist. Aber auch der Auftritt von Oasis-Sänger Liam Gallagher, mit dem Manchester eine lange, nicht immer unkomplizierte Geschichte verbindet, der den Abend zu einem runden Ende bringt, entfaltet seine volle emotionale Wucht: Der Song „Don’t look back in anger“, bei dem Gallagher Unterstützung von Coldplay-Frontman Chris Martin bekommt, ist wie geschaffen als Antwort auf den Terror. Viele Fans singen ihn auch noch, als sie das Stadion verlassen. Es wirkt wie eine Kampfhymne, die gebetsartig vor sich hin geträllert wird. So lange, bis es auch die Seele erreicht.

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Der absolute Star des Abends ist aber eindeutig Ariana Grande. Die zierliche 23-Jährige überzeugt mit perfekter Stimme, angebrachter Zurückhaltung und hoher Professionalität. Immer wieder gibt sie Duette mit ihren KollegInnen zum Besten, die ihr Anerkennung und Dank huldigen. Es war schließlich Grandes Idee, diesen Abend überhaupt auf die Beine zu stellen. Grande ist sichtlich gerührt, kämpft immer wieder mit den Tränen, erzählt betroffen von ihrem Krankenhausbesuch der verletzten Opfer des Attentats. Auch sie gibt Uptempo-Hits zum Besten, auch bei ihr wirkt es etwas erzwungen, aber der Applaus ist bei der jungen Dame am lautesten, und irgendwie wirkt es so, als müsse nicht zuletzt sie selbst sich den Schmerz der letzten Wochen von der Seele singen, weshalb bei Grande die Feel-Good-Liedchen nicht gar so stören. Es ist der Abend, der auch Grande selbst heilen wird: Denn bei all dem Doughnut-Abschleck-Skandal, bei all der unreifen Arroganz, welche die Sängerin mit der königlichen Stimme (an diesem Abend erinnerte sie mehr als einmal an eine junge Mariah Carey) an den Tag legt, ist sie immer noch ein 23-jähriges junges Mädchen, das ab nun damit leben muss, dass eines ihrer Konzerte von Terroristen als Anlass für einen Massenmord auserkoren wurde. Dass viele ihrer jungen Fans verletzt und gar getötet wurden. Grande schließt das Konzert mit einer gefühlvollen Interpretation von „Somewhere over the rainbow ab“: Spätestens jetzt ist der Katharsis-Höhepunkt erreicht, im Publikum fließen die Tränen. Der Heilprozess beginnt – langsam, aber sichtbar.

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Profitables Mitgefühl

Und so emotional das auch sein mag, so ergreifend und auch wunderschön, so sehr wird uns in den letzten Minuten des „One for Manchesters“-Konzerts auch die perversen Seiten dieses Abends bewusst: Ariana Grande wird durch das Attentat (bzw. dem folgenden Charity-Konzert) endgültig in den Superstar-Status aufsteigen, ihre CD-Verkäufe und ihre Sympathiewerte werden in die Höhe schnellen. Hat man mit dem Namen Grande bisher nichts anfangen können: Jetzt kennt die junge Frau jeder.

Und: Irgendwo, jenseits des Regenbogens, hören wir erneut den Lärm des Hubschraubers, der uns vorm Terror beschützen soll. Wir fragen uns, ob Popkonzerte, ein gesellschaftliches Ereignis der Freude und Zusammengehörigkeit, je wieder sicher sein werden.

Es ist an uns, zu heilen. Diese drei Stunden haben dabei geholfen. Und sei es nur, dass uns wieder in Erinnerung gerufen wurde: Ein guter Popsong zur richtigen Zeit am richtigen Ort kann Wunder heilen. Oder zumindest dazu beitragen.

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Alle Fotos: Screenshot/YouTube

 

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About the Author

Ich bin freiberuflicher Journalist in Österreich (I’m a freelance journalist in Austria) – und wie das bei Journalisten so ist, schreibe ich über alles (naja, fast alles) lieber als über mich selbst. In meinem Fall: Kultur, Pop, Popkultur – und alles, was dazwischen liegt. Weil man Lifestyle, Musik, Film, TV, Gesellschaftskritik, Politik und Gossip nun mal nicht trennen kann. Weil Populärkultur der Spiegel der Gesellschaft ist. Und weil ich als Journalist der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will. Man könnte auch sagen: Popkultur mit Niveau. Infotainment vom Feinsten.



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