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Published on Oktober 23rd, 2013 | by Manuel Simbürger

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Kathartische Flucht aus dem Alltag: Wieso TV-Serien dürfen, was sie dürfen

Ich bin in letzter Zeit bei Gesprächen mit Freunden und Bekannten immer wieder auf folgende Frage gestoßen: Wie weit darf Fernsehen gehen? Und da meine ich nicht, ob man sehen will, wie abgehalfterte Z-Promis Stierhoden oder sonstige Grausigkeiten in sich hineinstopfen, oder ob es einen wirklich interessiert, wie der „kleine“ Martin Semmelrogge aussieht. Da ist die Antwort nämlich (zumindest für mich) einfach: Nein, wollen wir nicht sehen. Das ist für mich nämlich nicht mehr als billige Quotenhascherei und hat mit gehobener TV-Unterhaltung nichts zu tun.

Vielmehr spreche ich davon, wie weit eine TV-Serie in ihrem Plot gehen darf. Aktuelles Beispiel, das mit dem Serienfinale wieder für Diskussionen sorgt: Darf man einen Serienkiller in einer Serie wie „Dexter“ zum Sympathieträger, ja sogar zum gebrochenen Helden machen, und ihn mit all seinen Taten davonkommen lassen? „Ich schaue mir die Serie nicht an, weil ich es nicht gutheißen kann, dass hier das Morden von Menschen so beschönigt und propagiert wird“, meinte unlängst eine gute Bekannte. Auch bei „American Horror Story“ scheiden sich die Geister (hier sogar im wahrsten Sinne des Wortes): Muss man es sehen, wenn ein Mensch nach einem Experiment zum Krüppel wird und sich im Tod windet? Ist es nötig, Nonnen zu (ehemaligen!) Huren zu machen? Ähnliches hört man bei „The Following“: Das genüssliche Zelebrieren von Todesopfern, von Selbstmorden und bestialischen Tötungsritualen – ist nicht jedermanns Sache. Sogar bei „How I Met Your Mother“ gibt es Gegenstimmen, dass es so gar nicht okay sei, wenn ein frauenverachtender Playboy zum Mittelpunt und Gesicht einer Serie erhoben wird. Und auch, natürlich, darf hier „Breaking Bad“ nicht unerwähnt bleiben: Popgöre Miley Cyrus erzürnte sich vor kurzem darüber, dass die Serie nichts anderes als eine Heim-Anleitung für Drogen-Herstellung sei. Und sie dürfe nicht mal mit dem Hintern wackeln, ohne dass sich die ganze Welt drüber aufregt. Arme Miley.

Nein, im Ernst: Man kann (und soll!) darüber diskutieren, wie weit fiktive Storys gehen dürfen – und wann die Fiktion eben zu sehr Realität wird, wann diese Fiktion Grenzen überschreitet. So einfach zu beantworten ist das freilich nicht.

Meine Meinung, kurz und prägnant: Sie soll Grenzen überschreiten. Sehr sogar.

Ohne Vorreiter keine Entwicklung

Zum einen muss festgehalten werden: Das TV hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Man muss sich heutzutage ob der Vielzahl an Konkurrenz schon einiges einfallen lassen, um Zuschauer vor den Bildschirm zu locken. Es war halt alles schon irgendwie irgendwann da. Als Zuschauer ist man (auch wegen der realen Nachrichten!) schon derart schock-resistent und abgestumpft, dass man sich (bewusst oder unbewusst) einen immer größeren Kick in serieller Form sucht. In den 1970ern war es ein Skandal, dass sexy Frauen in „Charlie’s Angels“ auf Verbrecherjagd gingen und mit weiblichen Waffen die Oberhand über Männer gewannen. Anfang der 1990er ging ein Aufschrei um die Welt, als „Beverly Hills, 90210“ es als erste TV-Serie wagte, Teenieprobleme offen anzusprechen und auch vor Themen wie Teen-Schwangerschaft oder Drogen nicht zurückzuschreckte. Everybody’s Darling Ellen DeGeneres outete sich ein paar Jährchen später in ihrer selbstbetitelten Sitcom als Lesbe und war lange Zeit Persona-non-grata im Showbiz. „Buffy“ schreckte auch vor gewagten Horrorszenen (und Plot-Elementen) nicht zurück, obwohl es sich um eine Teenieserie handelte. “Queer as Folk” (und “The L-Word”) Anfang der Nullerjahre zeigte erstmals ohne Beschönigung, Zensur und Verteufelung das schwule bzw. lesbische Leben – heute ist ein promiskuitives schwules Paar fixer Teil einer jeden Serie, die etwas auf sich hält.

Die Liste ließe sich lang vorsetzen.

Heute holt sowas keinem mehr hinter dem Ofen (bzw. hinter seinem Smartphone) hervor, im Gegenteil – eine Serie ohne Nacktszene wird schnell als prüde abgestempelt. Da muss man schon mit anderen Kalibern wie Serienkillern („Dexter“), Lehrer-turns-Drogendealer („Breaking Bad“), frauenverachtenden Playboys („HIMYM“, „Two and a half Men“), krebskranke Mütter („The Big C“), sexhungrigen Frauen („Sex and the City“ – zumindest Ende der 90er!), kannibalistischen Therapeuten („Hannibal“), schockierend detaillierten Horror- und Gewaltszenen („The Following“, „AHS“) oder drogendealenden Hausfrauen („Weeds“) daherkommen. Natürlich, all diese Serien wollen Aufmerksamkeit erregen. Gleichzeitig aber heben sie die TV-Landschaft, unseren TV-Konsum auf ein nächstes Level und zwingen die Branche so, sich ständig weiterzuentwickeln. Auch bei „90210“ hat man sich damals aufgeregt – ohne diese Serie wäre heute im TV aber vieles nicht so, wie wir es gewöhnt sind und wie wir es auch erwarten.

Katharsis mit Dexter und Walter White

Am allerwichtigsten aber ist mir folgender Aspekt: Ich schaue TV nicht, um belehrt zu werden (dafür hat sich das serielle Format inzwischen viel zu sehr weiterentwickelt). Ich schaue TV nicht, um gesagt zu bekommen, was richtig und was falsch ist. Das weiß ich ohnehin, thank you very much. Nichts nervt (mich) mehr, als der moralische Zeigefinger am Ende einer jeden Episode, der den Zuschauer darauf aufmerksam machen soll, dass man das ja, aber auch wirklich ja nicht zuhause nachmachen darf, was man gerade gesehen hat.

Für mich sind TV-Serien eine Flucht aus dem Alltag, ein Eintauchen in neue Welten, ein Erweitern des (intellektuellen und moralischen) Horizonts. Ich möchte Storys sehen, die mich schockieren, die mich berühren, die mich wütend machen, die mich zum Heulen bringen, zum Nachdenken anregen. Die es schaffen, mein eigenes Weltbild und Moralvorstellungen zu überdenken. Ich möchte bei Storys mit leben, möchte mich frei fühlen, ohne die Angst haben zu müssen, mir könnte im „wahren Leben“ etwas passieren. Ich möchte die kathartische Wirkung spüren. Ich möchte mich durch außergewöhnliche Plot-Ideen selbst neu und besser kennenlernen. Ich möchte mich fürchten, ohne reale Angst haben zu müssen.

Und das funktioniert nun mal nicht, wenn ich in Serien immer wieder an das reale Leben erinnert werde. In TV-Serien sind Dinge, Taten, Charakterzüge möglich, die zwar auch in der TV-Welt (meist) bestraft werden, die aber trotzdem anhand der jeweiligen Figur gelebt werden (ergo: dem Zuschauer gezeigt werden). Wenn ich „Dexter“ schaue, bedeutet das nicht, dass ich in Wahrheit auch Leute umbringen möchte. Aber jeder – JEDER! – hatte bereits Gedanken über Selbstjustiz oder wünschte diesen oder jenen Menschen den Tod (und sei es zum Beispiel und vor allem diversen Attentätern oder Serienmördern, die wir mittels Zeitung und TV-Nachrichten in unser Leben lassen). In den 40 Minuten einer „Dexter“-Folge kann man sich im geschütztem Umfeld die Frage stellen, wie es wäre, selbst Rache an bösen Buben zu nehmen – ohne sich sorgen zu müssen, ob man tatsächlich einen inneren Mörder in sich hat; aber auch nicht darüber, von der Polizei erwischt zu werden.

Eine Serie wie „Dexter“ (und auch andere sogenannte Quality-TV-Serien!) schaffen es zudem, das eigene Schwarz-Weiß-Denken abzulegen und die Welt in Grautönen wahrzunehmen. Ähnlich verhält es sich mit „Breaking Bad“: Die Serie zeigt, dass jeder von uns unter gewissen Umständen zu sehr viel fähig ist. Und nein, ich möchte deswegen nicht Drogenboss werden. Aber die Faszination von Drogen haben alle von uns mindestens einmal in seinem Leben gespürt, und hier kann man sich (noch dazu im Rahmen einer bemerkenswerten Charakterstudie) ausleben und sehen, wie das nun wäre, in diesem Drogensumpf. Nicht in kalten und dunklen Seitengassen einer gefährlichen Großstadt, sondern im gemütlichen Eigenheim mit Chips und Wolldecke. Sogar von im Grunde sehr konventionellen TV-Serien wie „Grey’s Anatomy“ oder auch „How I Met Your Mother“ erwarte ich mir Innovatives und Mut, Grenzen zu überschreiten. Eben ein Erinnern, dass wir uns in einer so spannenden TV-Welt befinden, die nicht unser Alltag ist und in der so vieles möglich ist – auch vieles, was man im wahren Leben nie erleben möchte.

TV-Serien dürfen das!

Kurz: Abenteuer jeglicher Art erleben, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Gefühle zulassen, die im Alltag unangebracht sind. In Psychen von Menschen einzutauchen, die man abstoßend und faszinierend zugleich findet – all diese Möglichkeiten (und noch viel mehr!) bieten TV-Serien.
Deshalb: Ja, TV-Serien dürfen sehr viel.

Wie lange wir das allerdings noch genießen dürfen, ist ohnehin fraglich. Viel Innovatives und Mutiges zeichnet sich in der aktuellen (und kommenden) TV-Saison nicht ab. Vielmehr scheint mal auf Altbewährtes zu setzen und erneut einen Gang runter zu schalten. Fast hat man den Eindruck, als ob die TV-Macher Angst vor ihrem eigenen Mut bekommen hätten. Das „echte Leben“ kann man halt doch nicht einfach so abstreifen – auch in der TV-Welt nicht.

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Dexter

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American Horror Story

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The Following

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Breaking Bad

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About the Author

Ich bin freiberuflicher Journalist in Österreich (I’m a freelance journalist in Austria) – und wie das bei Journalisten so ist, schreibe ich über alles (naja, fast alles) lieber als über mich selbst. In meinem Fall: Kultur, Pop, Popkultur – und alles, was dazwischen liegt. Weil man Lifestyle, Musik, Film, TV, Gesellschaftskritik, Politik und Gossip nun mal nicht trennen kann. Weil Populärkultur der Spiegel der Gesellschaft ist. Und weil ich als Journalist der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will. Man könnte auch sagen: Popkultur mit Niveau. Infotainment vom Feinsten.



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