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Published on April 26th, 2015 | by Manuel Simbürger

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“Daredevil”: Netflix setzt auf blinden Sadisten


Daredevil ist nicht Batman. Er ist auch nicht Spiderman und Superman schon gar nicht. Daredevil, der ist ein bisschen der Außenseiter der Superhelden-Gang, zumindest bei uns in Europa. In den USA gehört der blinde Rächer zur Elite-Superhero-Gruppe, teilt sich sogar seine Erzfeinde mit dem Spinnenmann. Obwohl, unbekannt ist Daredevil alias Matt Murdock auch bei uns nicht: Dank der rundum misslungenen 2003er-Kinoverfilmung mit Ben Affleck (der jetzt als Batman nochmal beweisen darf, dass er doch das Zeug zum Superhelden hat) wurde der Held uns zur Lächerlichkeit preisgegeben; wurde zu einem Held, der plötzlich nur noch mit einem Hollywood-Sunnyboy verbunden wurde, der dem Charakter so wenig gerecht wurde wie das „How I met your mother“-Finale den vorangegangenen neun Serienjahren (oder so, ich hab’s eher weniger mit Vergleichen).

Das ist ungerecht. Denn Daredevil (1964 von Stan Lee und dem Zeichner Bill Everett erdacht und in den achtziger Jahren von Frank Miller verfeinert) gehört zu den faszinierendsten und vor allem vielschichtigsten Charakteren des Marvel-Universums. Er könnte Batman sein. Weil er wie der Fledermausmann ständig zwischen Rächer und Held schwankt und meist einmal, zweimal, dreimal mehr zuschlägt, als es sein müsste. Der von Hass getrieben wird, den das Alltags-Alter Ego auszugleichen versucht. Daredevil könnte auch Spiderman sein. Weil er wie er stets auf der Suche nach dem Mörder seiner kindlichen Idealvorstellung ist, in diesem Fall des eigenen Vaters. Und weil er sich, zumindest in den Comics und, ja, auch im Affleck-Movie, fast genauso beeindruckend von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer schwingt wie die Spinne. Und irgendwie ist Daredevil sogar Superman, weil sein wahres Ich (oder doch seine Maske?) benso Gutes tun will, die Welt verändern möchte, hier zumindest im Kleinen, und dabei irgendwie nie so ganz zum Ziel gelangt. Und wie Clark Kent trägt auch Matt Murdock eine Brille und seine Frisur eigenartig altmodisch. Nur dass dies bei Daredevil, wie fast alles, einen durch und durch traurigen Hintergrund hat.

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Comeback

Berechtigt und vor allem höchste Zeit also, dass dem Teufelskerl ein Comeback gegönnt wird. Gerade jetzt passt’s perfekt, denn Marvel erobert mithilfe seiner übernatürlichen Geldmaschinen Iron Man, Thor, Captain America & Co gerade die Welt und besitzt wahrscheinlich bereits genauso viel Einfluss wie die NSA (oder so…ich sag ja…ich und Vergleiche….). Die Superhelden-Maske darf sich diesmal der VoD-Anbieter und Serienguru Netflix („House of Cards“, „Orange is the new black“) umschnallen, der, ganz im Binge Watching-Stil, die 13 Episoden der ersten Staffel Anfang April in einem Stück online stellte. Verantwortlich zeichnen für die erste der vier Netflix-Superhelden-Serien (folgen sollen noch Jessica Jones, Iron Fist und Luke Cage; am Ende münden diese Serien in „The Defenders“, eine Art TV-Version von „The Avengers“ also) Steven S. DeKnight und Drew Goddard. Serienfans werden spätestens jetzt verstehen, wieso es wert ist, in „Daredevil“ zumindest mal reinzuschnuppern: Nicht nur serielle Perlen wie „Alias“, „Lost“ oder „Spartacus“ dürfen sich die beiden auf ihre kreative Kappe schreiben, sie waren auch bei den Kultserien „Buffy“ und „Angel“ Teil des Drehbuchteams und lieferten hier jeweils einige der besten Episoden der beiden Serien ab. Weil die beiden anscheinend gerne mit alten Freunden zusammenarbeiten, ist auch Doug Petrie, ebenfalls ehemaliger „Buffy“-Autor, mit von der „Daredevil“-Partie. Mit solchen Grundvoraussetzungen war von Beginn an klar: „Daredevil“ kann eigentlich nur eine weitere Netflix-Perle werden. Und man hatte Recht.

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Sehr blutig, sehr brutal, sehr noir

„Daredevil“ jetzt schon als Serienjuwel zu bezeichnen, wäre ein bisschen verfrüht – etwas zu ungeschliffen ist der eine oder andere Dialog noch, in manchen Szenen hat man zudem das Gefühl, die Autoren würden eigentlich noch gern eins draufsetzen, trauen sich dann aber doch nicht so ganz. Auch kann die Serie bis zum Staffelfinale nicht vollends ihre Spannung halten. Trotzdem: Die erste Season schlägt sich (im wahrsten Sinne des Wortes) im Netflix-Becken mehr als gut und gehört sicherlich zu den besten Serienneustarts dieser Saison. Ganz im Stil von „Buffy“ und „Angel“ verzichten Goddard und DeKnight auch hier auf üppiges Chichi und besinnen sich, zugegeben auch ganz dem aktuellen Superhelden-Trend folgend, auf die dunklen, geerdeten Seiten des Rächers der Nacht – und liefern dabei gleichzeitig eine angenehm erwachsenere Version eines Superhelden ab, als es beispielsweise „The Flash“ oder „Arrow“ tun: „Sehr blutig, sehr brutal und lustvoll ins Pulp-Genre eintauchend, knüpft „Daredevil“ an Millers berühmte Comic-Reihe aus den Achtzigern an, in der aus Marvels halbgarem Versuch, einen eigenen Batman zu schaffen, eine eigenständige, symbolisch aufgeladene, toughe Heldenfigur wurde“, schreiben die Kollegen von Spiegel Online völlig außer sich vor Begeisterung.

Das Besondere an Matt Murdock alias Daredevil: Er ist seit einem Unfall in seiner Kindheit blind, wodurch aber seine anderen Sinne übernatürlich geschärft wurden. Heißt: Er riecht Menschen kilometerweit, weiß anhand des Pulses, ob sein Gegenüber lügt oder die Wahrheit sagt und hört fast so gut wie Superman. Bei Tag verteidigt Murdock als Junganwalt die Armen und Schwachen im New Yorker Slum „Hell’s Kitchen“, bei Nacht jagt er als erbarmungsloser Jäger jene Verbrecher, die der Justiz durchs Netz gehen. Das kann manchmal sogar derselbe Bad Boy sein, den er bei Tag noch vor Gericht zu einem Freispruch verhalf. Dieser bis zur Spitze getriebene Konflikt zwischen Gerechtigkeitssinn und Rache, Lebensretter und Sadist, zwischen Glaube an das Rechtssystem und Selbstjustiz, macht Daredevil zu einem äußerst komplexen Charakter. Nicht das physische Handicap (etwas zu gut kommt Murdock als Blinder im Alltag zurecht; selbst fremde Räume sind für ihn keine Herausforderung) ist es, was an diesem Helden fasziniert, sondern seine Seelenqual, das Böse auf der Welt nur mit Gegengewalt besiegen zu können, ist es, das den religiös erzogenen Murdock zerfrisst und ihn regelmäßig zur Beichte gehen lässt – wo er offen darüber spricht, dass es ihm Lust bereitet, die Schurken im Schutz der Nacht krankenhausreif zu schlagen und dass er unter bestimmten Umständen gar vor Mord nicht zurückschrecken würde. Mehr gritty geht nicht.

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Mischung aus Crimeshow und Superhelden-Wahnsinn

Mit solch einer Beichte beginnt die Pilotfolge von „Daredevil“ und setzt so bereits die Weichen für das, was noch kommen wird: nämlich nicht nur eine Mischung aus Crimeshow und Superhelden-Wahnsinn, auch diverse Charakterszenen der Helden (auch die Nebenfiguren sind in der Serie wunderbar detailgenau herausgearbeitet und mehr als bloße Stichwortgeber für die Hauptfigur) stehen genauso im Mittelpunkt wie gekonnt choreographierte Actionszenen, die in angenehmer Dosierung serviert werden und somit umso eindrucksvoller und realer daherkommen: Jetzt schon legendär ist die Single-Shot-Kampfszene am Ende der zweiten Episode – selten sah Serien-Gekloppe derart stylish und zeitgleich so ungemein schmerzhaft und real aus. Und sogar der Held selbst muss immer wieder einiges anstecken und wirkt dadurch um einiges weniger unnahbar als Superman oder Thor.

Ganz im Sinne des Noir-Genres dominiert die Dunkelheit die Serie, Sonnenschein sieht man in „Daredevil“ ungefähr so oft wie ein Lächeln auf Batmans Gesicht (ich sollte es vielleicht wirklich lassen….). Das ergibt durchaus ein rundes Bild (im Allgemeinen kommt jede einzelne Episode wie ein Kurzfilm daher), spiegelt es doch nicht nur Murdocks Seelenleben, sondern auch jene Welt wieder, durch die er sich so tatkräftig schlägt: Daredevil, der blinde Teufelskerl, kämpft gegen Killer, korrupte Polizisten und die üblichen Menschenhandelnden, Drogen vertickenden Straßengangster. Ein bisschen wie „Gotham“, nur weniger cartoonish. Hier gibt es keine Aliens, keine göttlich-tödlichen Waffen oder keine Dimensionsportale – ja, noch nicht einmal mit dem roten Teufelsanzug darf Daredevil anfangs noch kämpfen. Obwohl er, so ganz in Schwarz, ohnehin besser aussieht, ehrlich gesagt. Und, auch eine nette Abwechslung: Die Romantik wird in der Serie auf ein absolutes Minimum heruntergeschraubt. Es ist klar, dass die Serie auf ein vorwiegend männliches Zielpublikum abzielt.

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Neue Superhelden-Ära

Dazu kommt ein hervorragender Cast, der sich besser ergänzt als jener in „Arrow“, „Gotham“ oder „The Flash“: Charlie Cox schnupperte bereits in „Boardwalk Empire“ Serienluft und gibt die Hauptfigur mit einem gefährlich brodelnden Unterton. Eldon Nelson als BFF Foggy sorgt für den nötigen Humor, ohne in die Satire abzurutschen. Leinwandstar Rosario Dawson gibt sich als mutige Krankenschwester ebenso die Ehre wie Vincent D’Onofrio, der als Daredevil-Erzfeind Kingpin eine wie immer absolut überzeugende und furchterregende Darstellung abliefert. Ebenso ein Highlight ist „True Blood“-Beauty Deborah Ann Woll als Karen Page, die sich glaubwürdig vom Opfer zur Murdock-Partnerin mausern darf.

Bisher sind Kritiker und Fans gleichermaßen von der „Daredevil“-Auferstehung begeistert, vergessen ist die Affleck-Blamage. Der Teufelskerl gilt wieder als cool, dank Netflix darf auch wieder so richtig gewütet werden. Der Superhelden-Hype geht also nicht nur weiter, mit „Daredevil“ wurde vielleicht sogar eine neue (dunkle) Ära eingeleitet.

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Copyright Fotos: Netflix

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About the Author

Ich bin freiberuflicher Journalist in Österreich (I’m a freelance journalist in Austria) – und wie das bei Journalisten so ist, schreibe ich über alles (naja, fast alles) lieber als über mich selbst. In meinem Fall: Kultur, Pop, Popkultur – und alles, was dazwischen liegt. Weil man Lifestyle, Musik, Film, TV, Gesellschaftskritik, Politik und Gossip nun mal nicht trennen kann. Weil Populärkultur der Spiegel der Gesellschaft ist. Und weil ich als Journalist der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will. Man könnte auch sagen: Popkultur mit Niveau. Infotainment vom Feinsten.



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